Die Symptomverschreibung

 

Bei der sogenannten Symptomverschreibung schlage ich Klienten vor, ein lästiges Symptom, das man normalerweise vermeiden möchte, bewusst herbeizuführen. Wenn Sie einer dieser Perfektionisten sind, die ständig fürchten, einen Fehler zu machen, könnten Sie sich zum Beispiel das Gegenteil vornehmen: Machen Sie doch einfach mal bewusst einen Fehler!

 

Nehmen Sie sich zum Beispiel als Verhaltensexperiment vor, in der nächsten E-Mail, die Sie schreiben, absichtlich einen Rechtschreibfehler einzubauen. Stoßen Sie im Restaurant doch mal ein Glas Wasser um oder lassen Sie die Schnürsenkel eines Schuhs ungebunden.

 

Ja, Sie haben richtig gehört! Genau das, was Sie sonst krampfhaft vermeiden wollen, sollen Sie jetzt einmal ganz bewusst selbst herbeiführen. Nur als Experiment natürlich. Und testen Sie bitte auch nur ein kleines Fehlverhalten, bei dem kein realer Schaden für Sie oder andere entsteht! Sagen Sie der Polizei nicht, ich hätte Sie dazu angestiftet, wenn Sie beim Falsch-herum-im-Kreisverkehr-Fahren erwischt werden!

 

Wenn Sie sich getraut haben, einmal bewusst nicht perfekt zu sein, und die Welt höchstwahrscheinlich nicht wie befürchtet untergegangen ist, evaluieren Sie die Konsequenzen:

  • Hat dieses «Fehlverhalten» eine nachweislich negative Konsequenz für Ihr Leben gehabt?
  • Haben Ihre Mitmenschen Sie durch dieses «Fehlverhalten» tatsächlich abgewertet und weniger respektvoll behandelt?
  • Ist überhaupt jemandem aufgefallen, dass etwas anders war?
  • Kommen Sie zu der Schlussfolgerung, dass sich der Energieaufwand, den Ihr Perfektionismus Ihnen abverlangt, angesichts dieser eventuell nichtexistierenden Konsequenzen bei nichtperfektem Verhalten wirklich lohnt?

Manchmal eignet sich die Symptomverschreibung auch dazu, ganz unerwartete Erkenntnisse zu gewinnen. So kann es sein, dass sich eine Strategie, die wir uns zur Unterdrückung eines Symptoms angewöhnt haben, nicht nur als unwirksam, sondern eventuell sogar als kontraproduktiv herausstellt.

 

Das sogenannte Yerkes-Dodson-Gesetz (Yerkes u. Dodson, 1908), das bereits vor über hundert Jahren bei Ratten untersucht und später auch auf den Menschen übertragen wurde, beschreibt den Zusammenhang zwischen Erregung (Anspannung, Angst, Stress) und Leistung (Produktivität, Wirksamkeit) als umgekehrte U-Kurve:

 

 

Mit zunehmender Erregung steigt zunächst auch die Leistung. Wenn die Anspannung aber einen gewissen Pegel überschreitet, nimmt die Leistung auch schnell wieder ab. Druck ist also nur bis zu einem bestimmten Grad leistungsförderlich.

 

Stellen Sie sich einmal vor, wie Sie auf dem Weg vom Kaffeeautomaten zurück in Ihr Büro gehen und daran denken, dass Sie sich neue Schuhe kaufen wollen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Ihren Kaffee unterwegs verschütten? Nicht sehr hoch, oder?

 

Jetzt stellen Sie sich das Gleiche noch mal vor, nur denken Sie dieses Mal: «Ich darf jetzt auf gar keinen Fall meinen Kaffee verschütten!» Und was passiert? Dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf ein automatisiertes Handeln gelenkt und durch den zwanghaften Vorsatz viel Druck aufgebaut wird, spannt sich der Körper an und fängt an zu zittern. Der Gang ins Büro wird auf einmal viel länger, als Sie ihn in Erinnerung hatten.

 

Viele Menschen haben unbewusst solche «Ich-darf-keine-Fehler-machen!»-Strategien abgespeichert. Ein übertriebener Perfektionismus ist nicht sehr sinnvoll, denn er kann sogar dafür sorgen, dass wir noch mehr Fehler machen. Manchmal kann das Symptomverschreibungsexperiment in diesem Sinne also sogar zu der Erkenntnis führen, dass weniger perfektionistische Strategien nicht nur weniger Druck auslösen, sondern oft einfach auch erfolgreicher sind.

 

Einer meiner Klienten litt unter der sozialphobischen Angst, nicht lachen zu können, wenn ein Arbeitskollege einen Witz machte. Der Mann hatte sich in solchen Situationen die «Ich-muss-unbedingt-angemessen-reagieren!»-Strategie angewöhnt, was zu dem Resultat führte, dass er sofort verkrampfte, wenn jemand einen Witz machte. Die Prophezeiung erfüllte sich selbst und er konnte dann vor lauter Angst einfach nicht lachen.

 

Ich schlug ihm dann eine Symptomverschreibung vor: Beim nächsten Witz, den ein Arbeitskollege macht, darf er auf gar keinen Fall lachen! Der Mann wehrte sich empört gegen diesen Vorschlag, der seinem Verständnis nach seine Symptomatik nur noch verstärken würde. In der nächsten Sitzung berichtete er dann aber stolz, dass er sich doch getraut habe. Das Resultat war verblüffend: Der Mann hatte in seinem Leben noch nie so ausgelassen gelacht! Seitdem war seine Blockade verschwunden. 

 

Foto von Max Titov auf Unsplash

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