Was ist dran an "Mindfulness"?

 

Der Begriff „Mindfulness“ - oder wie es in einer neueren Übersetzung jetzt auf Deutsch übersetzt wird: „Achtsamkeit“ - schreckt manche Menschen ab. Weil es mit einer bestimmten Szene in Verbindung gebracht wird, mit der manch einer ein wenig fremdelt. Vor dem geistigen Auge tauchen Jünger in exotischen Kostümen auf, die singend durch die Straßen ziehen, sowie Yoga-Zentren und Meditationskreise. Vor allem Männer tun sich damit etwas schwer.

 

Hier spreche ich aus eigener Erfahrung, denn mir ging es am Anfang genauso. Mich irgendwo still hinzusetzen und einfach nur meinem Atem zu lauschen - was sollte mir das bringen? Wie sollte das zur Lösung meiner Probleme beitragen?

 

Ich versuche einmal, zu erklären, was sich aus meiner Sicht im Kern wirklich hinter der „Achtsamkeit“ verbirgt. Die tatsächlich eine wahre Geheimwaffe im Kampf gegen negative Gedanken ist. Wenn wir in so einer Phase gefangen sind, in der wir nicht aus den Grübeleien ausbrechen können, überlassen wir die Kontrolle über unser Leben uralten Instinkten. Die sind zwar dafür da, uns zu helfen, haben aber noch nichts vom 21. Jahrhundert und der Tatsache gehört, dass es keine Säbelzahntiger mehr gibt.

 

Wir können ihnen das aber leider nicht sagen. Sie glauben nur das, was unsere Gedanken ihnen suggerieren und die erzählen ja gerade etwas von Stress und Gefahr und Angst und … wir können genau diese Gedanken auch nicht einfach so stoppen. Uns einfach sagen: Ich denke da jetzt NICHT daran, geht nicht (wie war das noch gleich mit dem gelben Nilpferd mit rosa Punkten?). Im Zweifelsfall wird es dadurch nur noch schlimmer. Sich zu verhalten wie ein kleines Kind, das sich die Ohren zuhält und laut lalalalalaa ruft, weil es nicht hören möchte, wie die Mutter schimpft, ist auch nicht sehr effektiv. Und es würde zudem ziemlich eigenartig aussehen.

 

Nein, wir brauchen einen Schalter, mit dem wir das Gedankenkarussell zumindest lange genug stoppen können, bis der rationale Teil unseres Gehirns eine Chance hat, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Achtsamkeit, wie es bei Meditation und Yoga unterrichtet wird, kennen die Inder schon seit vielen tausend Jahren. Es ist in der modernen Medizin auch schon lange unbestritten, dass es tatsächlich positive Auswirkungen zum Beispiel auf zu hohen Blutdruck und andere stressbedingte Erkrankungen hat. Erst in jüngerer Zeit jedoch ist die Forschung dahintergekommen, warum das so ist. 

 

Es hat alles mit unserem vegetativen Nervensystem zu tun. Dahinter verbirgt sich die Verbindung zwischen Gehirn und dem Darmnervensystem. Du hast sicher schon den Begriff gehört, dass jemand auf sein „Bauchgefühl“ hört. Inzwischen weiß die Forschung, dass das nicht nur so eine Redensart ist - unser vegetatives Nervensystem ist viel mächtiger als bisher angenommen.

 

Hier soll es jetzt aber nicht um Rezepte für mehr Darmgesundheit gehen, sondern um Achtsamkeit. Und die hat vor allem etwas mit zwei wichtigen Nerven aus dem oben genannten System zu tun: Dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Erstgenannte erhöht die Aktionsfähigkeit bei Gefahr (eben der Kampf- und Fluchtreflex), der Zweite aber macht das Gegenteil. Er beruhigt unser Gefahrensystem und sorgt dafür, dass alle Organe wieder ganz normal ihren Dienst tun können: Dass das Herz ruhiger schlägt, der Stoffwechsel normal funktioniert und die Muskeln sich entspannen können. Eben der rationale Teil unseres Gehirns wieder voll durchstarten kann.

 

Wie aber spricht man diesen Parasympathikus am allerbesten aktiv an? Durch ruhiges, langsames, konzentriertes Atmen! Und genau das ist der Kern dessen, was bei Meditation und Yoga gelehrt wird. Wenn wir uns im Stress befinden, atmen wir meistens sehr flach, das Herz schlägt schneller und wir merken, wie die Muskeln sich verspannen. Witziger Weise können wir genau diese Effekte auch nutzen, um unser Gehirn auszutricksen.

 

Achte einmal auf deinen Gesichtsausdruck und deine Körperhaltung, wenn du dich gestresst fühlst. Hast du einen trockenen Mund? Runzelst du die Augenbrauen? Presst du deinen Kiefer zusammen? All das sind körperliche Reaktionen auf die Ausschüttung von Stresshormonen. Wenn du nun ganz bewusst die Gesichtsmuskeln und den Kiefer entspannst, vielleicht sogar ein kleines Lächeln versuchst, die Schultern zurückziehst, dich aufrecht hinsetzt und an dein Lieblingsessen denkst, wirst du dich innerhalb weniger Momente deutlich besser fühlen. Der Gedanke an dein Lieblingsessen regt den Speichelfluss an. Durch die entspannte Körperhaltung wird deinem Gehirn suggeriert, dass du überhaupt nicht in Gefahr bist. Es fährt das automatische Gefahrprogramm herunter.

 

Ja, und dann kommt der wichtigste Teil. Bleib entspannt sitzen, zähle bis 7 und hole dabei Luft, ganz tief, am besten aus der Bauchatmung heraus, und atme dann bis 11 wieder kontrolliert und langsam aus. Hektische, flache Atmung spricht den Sympathikus an. Wenn du aber kontrolliert und vor allem länger aus- als einatmest, sprichst du den Parasympathikus an. Das dauert ein wenig, daher solltest du das ungefähr zwei Minuten lang machen. Aber danach wirst du auf alle Fälle wieder „alle Sinne beieinander“ haben und auch für schwierige Herausforderungen bereit sein.

 

Dahinter steckt das Konzept, dass wir nicht deckungsgleich mit unserem Verstand sind. Oder anders ausgedrückt: Unser Verstand ist ein weiterer Bestandteil von uns, ein Objekt von vielen in unserem Bewusstsein. Wie ein Schmetterling auf einer Blume oder der nagelneue Ferrari, der dir morgens im Verkehr auffällt. Wir glauben nur immer, dass unsere Identität und unser Verstand gleichzusetzen sind, weil die Stimme, die wir in uns hören, sich so anhört wie wir selbst. Aber das ist nur ein Trick, eine Illusion, die unser Verstand nutzt. Wenn du dir das bewusst machst und einmal versuchst, deinen Verstand so zu beobachten wie du das mit dem Schmetterling auf der Blume machen würdest, praktizierst du Achtsamkeit.

 

Achtsamkeit ist also nicht mehr und nicht weniger als die Fähigkeit, in Zeiten von Stress mental einen Schritt zurück zu treten und sich bewusst zu machen, was da gerade passiert. Dich selbst zu beobachten:

  • Was macht mein Herzschlag?
  • Bin ich verspannt?
  • Was genau denke ich gerade?
  • Was will mein Verstand mir gerade sagen?
  • Was fühle ich bei dem Gedanken?

Und das Ganze zunächst völlig frei von Wertung und von dem Wunsch, etwas daran zu ändern. Der wichtigste Punkt hier ist wirklich zu erkennen, dass du nur bedingt Einfluss auf das hast, was dein Verstand die meiste Zeit macht. Aber du bist ihm auch nicht völlig hilflos ausgeliefert. Wenn du dir wirklich bewusst machst, was gerade passiert. Du kannst lernen, entspannter damit umzugehen und so indirekt die Prozesse auch wieder zu steuern.

 

Um es noch einmal zu wiederholen: Es sind schließlich deine eigenen Gedanken, die den Stress überhaupt erst auslösen. Dein Unterbewusstsein reagiert nur auf die Emotionen, die von deinen Befürchtungen getriggert werden. 

 

Wenn du jedoch wirklich Angst vor etwas hast, egal, ob begründet oder weil du einfach eine tiefliegende Furcht vor genau der Situation hast (möglicherweise aufgrund schlechter Erfahrungen), reicht einfaches „Hinhören“ natürlich nicht. Wenn du kein Blut sehen kannst, dein Kind sich aber verletzt hat und stark blutet, ist zusätzlich noch Zeitdruck mit im Spiel. Da wird es dir nicht helfen, dass dein Verstand Amok läuft und du ihm dabei zuhörst. Dir wird in dem Moment vermutlich gar nichts einfallen, außer starr stehen zu bleiben oder in wenig hilfreiche Hektik zu verfallen.

 

Dafür gibt es eine Achtsamkeit-Übung, die zum Beispiel auch Menschen nutzen, die unter Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) leiden. Bei ihnen können bestimmte Situationen ganz plötzlich traumatische Erinnerungen wecken und zu echten Panikreaktionen führen. Hier muss ich natürlich erklären, dass diese Übung, um die es gleich geht, weder eine Therapie ersetzt, noch PTBS heilen kann. Aber sie hilft in sehr stressigen, an Panik grenzenden Momenten, durchaus. Schau dich dazu um und kommentiere innerlich alles, was dir in den Blick kommt, mit „Ich sehe“. Wenn dir ein Geräusch auffällt, mit „Ich höre“ und wenn du zum Beispiel mit dem Fuß gegen etwas stößt, denke dir „Ich fühle“. Das muss so schnell wie möglich geschehen, sobald der Sinneseindruck von deinem Gehirn registriert wird. Wenige Sekunden reichen hier schon. Durch den Fokus auf deine Umwelt holst du dein Bewusstsein in die Gegenwart zurück und schaltest das Notfallprogramm deutlich herunter. Dein logisches Denken kann sich wieder melden. Und dir wird dann wenigstens einfallen, wie du deinem innerlichen Kind helfen kannst, auch wenn du selbst nicht zu erster Hilfe in der Lage bist.

 

Ja, auch das ist Achtsamkeit - dir bewusst zu machen, dass du im hier und jetzt nicht in Gefahr bist (es sei denn, du läufst wirklich vor einem Tiger davon). Dein Verstand nimmt die Welt durch tausende Filter wahr. Dazu gehören frühere Erfahrungen, die er mit bestimmten Emotionen in Verbindung bringt. Er wird diese immer dann aktivieren, wenn eine Situation an diese alte Erfahrung erinnert. Oder auch genetische Faktoren, soziale Normen und Prägungen durch dein Umfeld. Als Kind lernst du durch Beobachtung der Welt um dich herum - und wiederholst ganz unbewusst später, was du glaubst, verstanden zu haben. All das trägt dazu bei, wie du auf bestimmte Reize und Situationen reagierst. Das kann ein passender Weg sein, aber es ist mit Sicherheit nicht der einzige oder gar der beste Weg.

 

Durch Achtsamkeit schaffst du es, vom Hauptdarsteller eines Dramas kurzzeitig zum Zuschauer zu werden. Nur so kannst du die ganze Szene erfassen und dir ein viel besseres Bild zu machen. Anschließend kannst du mit dem erweiterten Wissen die Rolle des Hauptdarstellers viel besser ausfüllen. Und vor allem viel entspannter.

 

Foto von Lesly Juarez auf Unsplash

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