Das ABC der Gefühle

 

Wie entstehen Gefühle und wie aussagekräftig sind sie in Bezug auf eine andere, nicht eigene subjektive oder "objektive" Realität? Und: Können wir sie anpassen bzw. verändern oder müssen wir notgedrungen ausnahmslos unter ihnen leiden? 

 

Starke Gefühle entstehen nicht einfach so aus heiterem Himmel. Bei Trauer ist es einfach. Wenn ich einen geliebten Menschen verliere, trauere ich. Das kann bei Liebeskummer der Fall sein. Oder auch nach einem tragischen Unfall.

 

Aber das passiert einem glücklicherweise nicht jeden Tag. Und doch werden wir auch in ganz alltäglichen Situationen gelegentlich mit sehr starken Emotionen konfrontiert. Aber wir stellen uns diesen meist nicht, sondern blenden sie entweder aus, oder reagieren mit Ärger, Frust, heftiger Kritik und starken Ressentiments. Das hängt mit der Natur der Gefühle zusammen und wodurch sie ausgelöst werden. Sie stehen nicht einfach so im luftleeren Raum. Und sie entstehen auch nicht einfach so.

 

Dahinter steckt eine Verkettung aus drei Schritten:

 

Schritt 1 (A)

Du siehst oder hörst etwas, das dein Unterbewusstsein an eine bestimmte Erfahrung erinnert. Das kann positiv oder negativ sein. Ich bekomme heute noch Appetit auf Schokoladeneis, wenn ich etwas höre, das an die Klingel des Eismanns bei uns im Dorf erinnert. Zu Martinshörnern habe ich dagegen eher eine schwierige Beziehung. Meistens sind diese Eindrücke aber sehr subtil.

 

Schritt 2 (B)

Dein Unterbewusstsein verpasst dem Sinneseindruck eine Bewertung: Positiv wie im Falle des Eismanns (es sei denn, du möchtest gerade abnehmen) oder Zuschreibungen wie „gefährlich“, „peinlich“, „schmerzhaft“, und so weiter.

 

Schritt 3 (C)

Dein Unterbewusstsein schickt dir starke Emotionen, die dich dazu zu bewegen, aktiv zu werden. Angst sorgt dafür, dass du dich aus der Gefahrenzone begibst. Scham wird dich dazu bringen, einen Fehler wieder gut zu machen. Trauer hilft dir, dich von etwas zu lösen, das Teil der Vergangenheit war und dir in der Gegenwart und Zukunft nicht mehr hilft. Ärger kommt dann auf, wenn deine Werte und inneren Grenzen in Gefahr geraten.

 

Zusammengefasst besteht ein Gefühl in Wirklichkeit aus 3 Teilen:

 

A – Das Ereignis bzw. die Situation

B – Unsere Gedanken, die die Situation bewerten

C – Unserem Gefühl und der Handlung

 

Als ich diese Struktur erst erkannte hatte, kamen viele Erinnerungen in mir hoch, die dazu passten. Einmal gab es zum Beispiel ein Vorkommnis mit meinem Vorgesetzten. Es war während eines besonders kritischen Projekts und wir waren alle sehr angespannt. Ein Termin musste unbedingt eingehalten werden und lange Zeit sah es nicht danach aus, als würden wir es schaffen. Wir alle machten damals Überstunden ohne Ende, weil wir das Projekt unbedingt erfolgreich abschließen wollten. Auch ich hatte am Abend vorher bis weit nach 22 Uhr gearbeitet und war morgens schon um 5 Uhr wieder im Büro. Zwei meiner Kollegen ebenfalls, und wir schafften den Durchbruch. Gegen 11 Uhr an dem Tag konnten wir Vollzug melden. Hätten wir gekonnt, wenn nicht unser Chef in einer Dauersitzung verschollen gewesen wäre.

 

Erschöpft, aber auch glücklich nach diesem Marathon, saß ich also im Büro. Trank eine Tasse Kaffee und las die Zeitung, als die Tür aufflog und mein Chef hereinstürmte: „Wissen Sie, wie spät es ist?“ Ich war fassungslos! Nach all der Arbeit, die wir geleistet hatten, wurde ich angepflaumt, weil ich außerhalb einer regulären Pause die Zeitung las? Ich spürte, wie der Ärger in mir aufstieg, holte tief Luft und wollte gerade losschimpfen, als mein Blick glücklicherweise auf meinen Chef fiel. Er war blass, hatte schwarze Ränder unter den Augen und hielt mir den linken Arm vors Gesicht. „Ich habe meine Uhr vergessen“, meinte er atemlos. „Und mein Handyakku ist auch alle. Heute geht auch alles schief. Ich muss dringend unseren Bereichsleiter erreichen und…“

 

Der Rest tut nichts zur Sache. Glücklicherweise hatte ich mich gerade noch in den Griff bekommen. Und so war ich in der Lage, ihm die gute Nachricht für das Gespräch mit seinem Vorgesetzten mit auf den Weg zu geben.

 

Ich bin sicher, jeder von uns kennt ähnliche Geschichten. Der Klassiker beim Autofahren: Wenn der Beifahrer lässig bemerkt, dass die Ampel gerade auf grün gesprungen ist (oder meine Frau mich zum hundertsten Mal an derselben Stelle davor warnt, dass die nächste Kurve noch immer sehr eng ist) und wir sofort unsere Kompetenzen in Frage gestellt glauben.

 

Die gute Nachricht vorab: Veranlagung ist es nicht. Oder nur zu so kleinen Teilen, dass sie nicht ins Gewicht fallen. Nein, wäre es Veranlagung, dann würden wir tatsächlich wie ein Roboter immer dasselbe Programm abfahren. Uns in Situation X immer ärgern, in Situation Y immer freuen und in Situation Z immer die Flucht ergreifen. Und zwar unabhängig von Tageszeit, Laune, Vorgeschichte oder sonstigem Kontext.

 

Glücklicherweise ist das nicht so. Wir haben in der Tat Einfluss darauf, wie wir eine bestimmte Situation bewerten und damit auch, wie wir darauf reagieren. Vor allem mit welchen Gefühlen wir reagieren: Ob wir vor Ärger in die Luft gehen oder mit relativer Gelassenheit auch schwierige Themen abhaken können.

 

Du magst jetzt sagen, dass es ungesund ist, Gefühle zu unterdrücken. Und, dass man doch ab und zu auch seinem Ärger Luft machen sollte, damit man nicht krank wird. Und genau das ist der Punkt: Wenn man Ärger verspürt, sollte man ihn weder ignorieren noch versuchen, zu unterdrücken. Das geht auf Dauer nicht gut und endet meistens mit einem noch viel größeren Ausbruch wegen einer absoluten Nichtigkeit. Genauso wenig sollte man andere negative Gefühle wie Hoffnungslosigkeit, Trauer oder Verachtung einfach nur herunterschlucken. Aber eben auch nicht unreflektiert ausleben.

 

ALSO, WAS IST STATTDESSEN ZU EMPFEHLEN UND WARUM SEHE ICH MIR HIER NUR DIE NEGATIVEN BEISPIELE AN?

 

Nun, es lohnt sich, die Auslöser für die schlechten Gefühle zu hinterfragen. Dahinter stecken, wie weiter oben erwähnt, „Bewertungen“ einer Situation in Form meist negativer Gedanken. Diesen kann man auf die Spur kommen und das sollte man auch. Denn, wie in vorherigen Blogartikeln ausgeführt, sind leider die weitaus größte Anzahl unserer Gedanken negativ. Und wie die Wissenschaft inzwischen nachweisen konnte, haben zu viele Grübeleien und negative Gedankenspiele die Kraft, einen Menschen krank zu machen. Körperlich krank.

 

Ich bin sicher, auch du kennst das: Es gibt solche Tage, an denen absolut alles schief geht. Morgens rutscht man in der Küche aus und schüttet den Kaffee auf das einzige gebügelte Hemd, das noch im Schrank gehangen hatte. Durch die ungeplante Umkleideaktion kommt man viel später los als sonst und landet natürlich im Hauptstau des Frühverkehrs. Just an dem Morgen (dem einzigen im Jahr), an dem man zu spät ins Büro kommt, wollte der Chef ganz dringend etwas von einem.

 

Und weiter geht die Kettenreaktion aus unglücklichen Umständen, an deren Ende man so ziemlich alles in Frage stellt. Die eigene Kompetenz, die berufliche Zukunft, bis hin zur Sicherheit des Arbeitsplatzes. Rational gesehen ist vermutlich überhaupt nichts passiert. Der Bereichsleiter wusste nicht, dass ich zu spät dran war. Ich hätte ja nur in einem Meeting sein können. Er hatte eine Nachricht hinterlassen, mich bitte zu melden, was ich postwendend getan habe. Gefragt hat er nicht, wo ich war. Ich habe mich trotzdem wirr und unzusammenhängend gerechtfertigt, was dann überhaupt erst zu weiteren Fragen geführt hat. Diese wiederum haben das Gefühl ausgelöst, dass mir, beziehungsweise meiner Fachkompetenz, kein Vertrauen entgegengebracht wird.

 

Was dabei jedoch viel schlimmer ist, als die zugegebenermaßen ärgerlichen Verwicklungen im Büro, ist, was in uns drin in diesen Situationen geschieht. Wie ich bereits ausgeführt habe, reagieren wir unter Stress nach einem Programm, das bereits zu Urzeiten entstanden ist. Es läuft in den tiefsten und ältesten Regionen unseres Gehirns ab, die sich bis heute kaum verändert haben. Damals ergab das auch Sinn, waren unsere Vorfahren doch jeden Tag wirklichen Gefahren ausgesetzt. Schon der kleinste Fehltritt konnte tödliche Folgen haben. Bei der Jagd passierte schnell ein Unfall und schon kleinste Verletzungen hatten verheerende Folgen. Im Zweifelsfall tödliche, denn einfach zum Arzt gehen konnte damals niemand.

 

Eines der großen Wunder der Natur ist es, wie perfekt der Mensch sich an diese Umstände angepasst hat. Es reichte schon der leiseste Hinweis auf Gefahr und in uns lief vollautomatisch ein Rettungsprogramm ab. Ein Muster wurde als Gefahr erkannt. Ein spezifisches Geräusch, der Geruch nach Wild oder der Schatten einer Bewegung reichte, und unser Vorfahr wusste: Da wartet ein Fressfeind. Sofort sorgten die Neuronen in dem ältesten Teil unseres Gehirns dafür, dass ein Hormon namens „Adrenalin“ ausgeschüttet wurde. Dieses Hormon sorgte dafür, dass der Blutdruck unseres Vorfahren sofort anstieg, die Bronchien sich erweiterten und durch Fettabbau, sowie die Biosynthese von Glucose im Blut, sehr schnell sehr viel Energie bereitstand. Für nur einen Zweck: Sich mit aller Kraft dem Feind stellen zu können oder, meistens die bessere Lösung, so schnell wie möglich weglaufen zu können. Gleichzeitig hemmt Adrenalin auch sämtliche andere Funktionen im Körper und Gehirn. Die Magen-Darm-Tätigkeit wird heruntergefahren (Hungergefühl wäre in so einer Situation eher hinderlich) und der Vorfahr bekommt einen buchstäblichen Tunnelblick auf das, was ihm in der Gefahrensituation helfen könnte: eine passende Waffe oder ein geeigneter Fluchtweg. Andere Gedanken, auch rationaler Art, sind in dem Moment nicht verfügbar und würden vermutlich auch nicht helfen.

 

Nach dem Ausstoß von Adrenalin, das sozusagen den Flucht- oder Kampfreflex auslöst, schüttet der Körper Cortisol, das zweite Stresshormon, aus. Während Adrenalin selbst nur kurz und heftig wirkt, wird Cortisol länger bereitgestellt. Seine Hauptfunktion besteht darin, die Abbauvorgänge des Stoffwechsels zu aktivieren, wodurch weitere Energie zur Verfügung steht. Aber es hemmt auch das Immunsystem und kann Entzündungsreaktionen im Körper entgegenwirken. Durchaus ein Vorteil, wenn unser Vorfahr sich auf der Flucht leicht verletzt hat und eben kein Arzt so schnell zur Verfügung steht. Dann ist es gut, wenn sich nicht so schnell Entzündungen einstellen.

 

Aber Entzündungen sind eben auch eine Abwehrreaktion unseres Immunsystems auf schädliche Eindringlinge. Auf Dauer macht uns ein eingeschränktes Immunsystem anfälliger für möglicherweise schwerere Erkrankungen. Ein weiterer Nachteil bei alldem ist, dass diese Notreaktion des Körpers eben nur für einen Notfall eingerichtet ist: Die sehr schnelle Flucht aus einer Gefahrensituation oder auch der Kampf mit einem gefährlichen Feind, für den man alle Kraft und die gesamte Konzentration benötigt. Aber es ist und war nie für einen längeren Zeitraum gedacht. Denn wir wissen ja, was passiert, wenn wir eine Kerze an beiden Enden anzünden. Sie brennt heller, ist aber auch viel schneller abgebrannt.

 

Und genau das wird uns heute gelegentlich zum Verhängnis. Unser Gehirn glaubt, was wir ihm sagen, nicht umgekehrt. Auch wenn die Gedanken ganz unbewusst kreisen. Unser Unterbewusstsein kann nicht zwischen erlebter und nur detailliert ausgemalter Gefahr unterscheiden. Es glaubt, dass uns eine absolute Katastrophe bevorsteht und wir in akuter Lebensgefahr schweben. Und so wird für unser Gehirn tatsächlich aus der - wohlgemerkt nur ausgemalten - Abmahnung durch den Chef ein leibhaftiger Säbelzahntiger, der kurz davorsteht, uns in eine Mahlzeit zu verwandeln. Und nach dem Chef kommt der Stress im Stau, das Kind, das in der Schule gemobbt wurde und eine Rechnung, die höher ausgefallen ist, als unser derzeitiger Kontostand hergibt. Und immer weiter bekommt unser Gehirn das Signal: Gefahr im Verzug!

 

Dabei ist es vor allem Cortisol, das hier zum Bösewicht wird. Denn neben der Beeinträchtigung des Immunsystems wirkt es auch negativ auf den Blutzuckerspiegel. Cortisol ist ein wichtiger Gegenspieler zum Insulin. Ist der Cortisolspiegel im Blut dauerhaft erhöht, kann dies langfristig zu Insulinresistenz und damit tatsächlich zu Vorstufen von Diabetes oder auch einem Ausbruch von Diabetes kommen.

 

Dazu kommt, dass chronischer Stress nachweislich zu Depressionen führen kann, die in zahlreichen Studien als mit ursächlich für schwere Herz-Kreislauferkrankungen nachgewiesen wurden. So ist inzwischen belegt, dass Depressionen und/oder dauerhafter Stress, egal ob beruflich oder privat (Scheidung, Tod eines geliebten Menschen...), für etwa jeden dritten Herzinfarkt verantwortlich sind.

 

Sehr vereinfacht gesagt: Durch dauernde, negative und quälende Gedanken versetzen wir unseren Körper in Dauerstress. Das führt zur Ausschüttung der genannten Stresshormone über einen viel zu langen Zeitraum, was wiederum langfristig zu Depressionen - aber auch physischen Symptomen wie chronischen Schmerzen, Diabetes und schweren Herz-Kreislauferkrankungen - führen kann.

 

Aber genug von den schlechten Nachrichten. Es ist an der Zeit, aktiv zu werden. In all den schwierigen Punkten gibt es nämlich auch eine gute Nachricht: Da wir selbst die Verursacher der negativen Gedanken sind, können wir sie auch selbst ändern, und zwar durchaus mit „Hausmitteln“. Damit meine ich nicht Dinge wie Kamillentee oder Wadenwickel (obwohl diese zumindest nicht schaden). Nein, wir haben es selbst in der Hand, negativen Denkmustern und Glaubenssätzen auf die Spur zu kommen. Sie rational infrage zu stellen und so nach und nach auszuschalten. Die negative Abwärtsspirale sozusagen umzudrehen. Aber wie finden wir heraus, welche negativen Gedanken sich bei uns vielleicht schon seit Langem und ganz tief im Unterbewusstsein eingenistet haben?

 

Unsere Klienten führen ein sogenanntes Emotionstagebuch. Dort zeichnen sie alle ihre Gefühle auf, die nicht in dem gelassenen, bewussten Erwachsenenmodus entstanden sind, sondern in eher kindlich / jugendlichen Bereichen. Und das ist tatsächlich der erste Schritt der Bewusstmachung und Selbst-Differenzierung! 

 

Weitere Schritte können folgen, die Du wie immer unseren METHODEN entnehmen kannst. 

 

Foto von Tengyart auf Unsplash

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