Was genau ist eigentlich eine Neurose?

 

Die Lehre der psychischen Krankheiten - im Fachjargon Psychopathologie genannt - fasziniert viele Menschen. Der Grund ist ganz einfach: Nichts ist faszinierender als dem Partner, dem Nachbaron oder dem Kollegen neurotische Züge zu unterstellen. Der spinnt doch! - Aber was genau ist denn eigentlich so eine Neurose und gibt es dazu verbindliche Vorstellungen in der Psychologie? 

 

Was genau neurotisch ist, kann keiner präzise sagen. Selbst die Begründer der drei Wiener Psychotherapieschulen sind hier unterschiedlicher Meinung: Sigmund Freud meinte, dass Neurosen entstünden, wenn Sexualität unterdrückt werde. Alfred Adler, Freuds geschasster Kronprinz, postulierte hingegen Neurosen als Minderwertigkeitsgefühle, als Machtdefizit, mit dem man nicht klarkomme. An anderen Stellen wiederum bezeichnet Adler die Neurose als Lebensirrtum und Flucht: Flucht vor einer Aufgabe, Flucht vor der Innerlichkeit, Flucht vor der Leiblichkeit, Flucht vor Konflikten oder Flucht vor der Gesellschaft. Viktor Frankl wiederum erklärte eine Neurose mit dem Leiden am sinnlosen Leben.

 

Bis heute gibt es dazu keinen wissenschaftlichen Konsens. Deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff größtenteils aus ihrer Klassifikation der psychischen Krankheiten entfernt. Jetzt gibt es eben keine Angstneurose mehr, sondern eine Angststörung, keine Zwangsneurose, sondern eine Zwangsstörung. Allerdings heißt das Kapitel 4 der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« bis heute »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen«. Also doch wieder Neurose?

 

Diese akademische Diskussion ist dem Neurotiker aber ziemlich egal. In der psychotherapeutischen Praxis brauchbar ist folgende Definition: Neurose ist ein angstvolles Kreisen um sich selbst, das den Menschen letztlich blockiert. Der Neurotiker stellt sich selbst ein Bein, hat enorm viel Angst um sich selbst, und diese Angst lähmt ihn und isoliert ihn von seinen Mitmenschen. Alle seine Angstszenarien sind – anders als beim Psychotiker – rational nachvollziehbar und sogar überprüfbar, aber er setzt überproportional viel Emotion an dieser Stelle ein. Dadurch kommt es letztlich zu einer Fehleinschätzung, die Angst zur logischen Folge hat.

 

Ein Beispiel: Der Sozialphobiker (belastet mit einer Art der Neurose) hat die Panik, dass er etwas tut, worüber die Leute dann reden würden. Tatsächlich reden Leute immer über andere Leute. Er hat also Angst vor etwas, das nicht vermeidbar ist. Natürlich: Wenn man nicht präsent ist, dann reden sie freilich weniger, als wenn man »auf der Bühne« steht. Trotzdem ist das letztlich kein Grund, nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Der Neurotiker sieht die Gefahr und überschätzt sie. Er schiebt innerlich die Kommastellen der Wahrscheinlichkeit eines bedrohlichen Ereignisses nach links, starrt wie die Maus vor der Schlange auf die (sehr unwahrscheinliche, aber immerhin mögliche) Gefahr und wird so im Extremfall lebensunfähig.

 

Der bedeutende Berliner Individualpsychologe Fritz Künkel war der wichtigste Schüler von Alfred Adler. Um die neurotische Entwicklung richtig zu beschreiben, hat er den Terminus der Ichhaftigkeit eingeführt und diese als Gegensatz zur Sachlichkeit definiert. Fritz Künkel erzählt in seiner »Einführung in die Charakterkunde« folgenden Fall, um seine Hypothese plakativ zu skizzieren:

 

»Man stelle sich vor, dass ein alter Mann auf der Straße hingefallen ist und dass ein jüngerer herbeieilt, um ihm zu helfen. Eine solche Hilfeleistung kann zwei verschiedenen Zwecken dienen. Entweder ist ihr Zweck, dass dem Verunglückten geholfen werde, oder aber, dass der Helfer sich durch seine gute Tat ein Verdienst erwerbe. Überwiegt der erste Zweck, so nennen wir die Funktion des Handelnden ›sachlich‹ oder ›wirhaft‹, überwiegt der zweite, so nennen wir sie ›ichhaft‹ oder unsachlich.«

 

Tatsächlich gibt es in der Praxis jede Menge Klienten, die genau dieses Problem haben. Menschen, die in sich selbst gefangen sind und es nicht einmal merken. Selbst ihre scheinbare Selbstlosigkeit ist vor lauter Ich schwer zu ertragen. Ichhaftigkeit bezeichnet bei Künkel eine Egozentrik, die jede eigene Handlung und auch jedes andere Ereignis sogleich und intensiv in Beziehung zu sich selbst setzt: Ein solcher Mensch kann nie von sich selbst absehen. Dadurch erhält das Leben eine Schwere, mit der manche Hürden nicht mehr genommen werden können.

 

Herr Sigfried K. kommt in die Praxis und beginnt, kaum dass er auf der Couch sitzt, über seine Ehe zu klagen. Was seine Frau ihm alles antue! Ungeheuerlich! Er lässt sich auch vom Coach in seinem Redeschwall nicht unterbrechen. Sichtlich konnte der Herr sich lange Zeit nicht erleichtern. Ein Martyrium, das dieser arme Mann da erleiden muss! Er zeichnet das Psychogramm einer Schwerverbrecherin. Offenbar ist nichts Gutes an ihr zu finden.

 

Die erste Therapieeinheit wird vollständig mit den seelischen Grausamkeiten der Gattin verbraucht. In der Mitte der zweiten Stunde wagt der Coach die Frage: »Können Sie mir bitte die positiven Eigenschaften Ihrer Frau nennen?« Erstmals Schweigen. Gequältes Nachdenken. Herr K. fühlt sich unverstanden. Es kommt keine Antwort.

 

Der Coach versucht zu helfen: »Sie haben diese Frau doch geheiratet – damals kann es doch noch nicht so schlimm gewesen sein.« Das hilft: »Nein, da war es noch nicht so schlimm. Aber im Grunde …« – die oben beschriebene Leier geht weiter. »So ein Ungeheuer heiratet man doch nicht«, wirft der Therapeut ein. »Doch, denn das hat sie alles geschickt verborgen. Sie hat mich reingelegt.« Okay, das ist eine Sackgasse. So kommt man nicht weiter. Der Coach tritt den Rückzug an und versucht behutsam einen anderen Weg: Er würde gerne mit Herrn K. erarbeiten, welchen Anteil er selbst an diesem ehelichen Konflikt habe. Da bricht die Entrüstung aus dem gequälten Ehemann heraus: »Ja glauben Sie vielleicht, ich bin da selber schuld?« Der Coach rudert zurück: »Nein, natürlich nicht, ich frage ja nur.« Aber jeder habe doch Fehler. Ob nicht auch er selbst den einen oder anderen kleinen Fehler habe? »Natürlich! Jeder Mensch macht Fehler.«

 

Man kommt langsam voran. Licht am Ende des Tunnels! Ob man sich vielleicht einmal kurz diesen klitzekleinen Fehlern zuwenden könnte? Welche genau wären das denn in seinem speziellen Fall? »Weiß ich nicht.« Der Coach schweigt vielsagend. Der Klient auch. Angestrengtes Nachdenken. Dann seine zerknirschte Selbstoffenbarung: »Einen Fehler habe ich – ich war immer zu gutmütig!«

 

Sigfried K. kann aufgrund seiner Ichhaftigkeit die Ehesituation nur als Schuld der Partnerin interpretieren. Die Fehlerlosigkeit des Herrn K. verhindert Selbstreflexion, Beziehungsfähigkeit, Vergebung und damit Handlungsspielraum. Künkel bezeichnet das als Gefangenschaft im Ich: »Das wichtigste Symptom der Ichhaftigkeit ist die innere Vereinsamung, der Mangel an Verbindung von Herz zu Herz. Alle anderen Nöte und Leiden wie etwa die Freudlosigkeit, die Verödung der Ziele und vor allem das häufigste und schwerste Symptom der Verirrung, nämlich die Angst, stellen sich bei genauerer Nachforschung als die direkten oder indirekten Abkömmlinge der inneren Vereinsamung dar.«

 

Tatsächlich ist die Selbstisolation des Neurotikers immer wieder bemerkenswert, insbesondere da er selbst am meisten darunter leidet. Mangel an Verbindung von Herz zu Herz, Freudlosigkeit, Verödung der Ziele und Angst sind alles Phänomene, denen man oft in der transformationstherapeutischen Praxis begegnet. Ichhaftigkeit ist letztlich ein Mangel an Freiheit, reduziert den Handlungsspielraum. Sie zieht so starke Mauern, dass oft nur ein harter Schicksalsschlag den Klienten befreien kann.

 

Man kann in der Erziehung Ichhaftigkeit richtiggehend züchten – indem auch die Eltern immer um das Kind kreisen, dem Kleinen immer recht geben, Fremdbeschuldigung anerziehen. Der Kinderpsychiater und Analytiker Michael Winterhoff hat in seinen Büchern eine brauchbare Anleitung gegeben, wie man es vermeiden kann, dass sich Kinder zu kleinen Tyrannen entwickeln. Das Kind wird nach Winterhoffs Hypothese in der Wichtigkeit und oft auch in der Familienhierarchie überwertet und wie ein kleiner Erwachsener behandelt. Durch die Schuld der Eltern versäumt das Kind zu lernen, sich in eine menschliche Gemeinschaft (Familie) einzuordnen und sich Autoritäten (den Eltern) unterzuordnen. Dadurch kommt es irgendwann zu einer Machtumkehr, die das Kind zum Tyrannen macht und ihm so die Chance auf eine gesunde Entwicklung verbaut. Ursache dieser Überwertung ist oft eine ichhafte, ja narzisstische »Liebe« der Eltern zum Kind, in der das Kind mehr die Funktion der Icherhöhung der Eltern hat, als dass die Eltern ihre Erziehungspflichten wahrnehmen.

 

Die Konstellation des Einzelkindes und des Scheidungskindes ist da besonders gefährdend, Zweiteres weil beide Eltern im Wettstreit um die Liebe des Kindes buhlen müssen. Zu Künkels Modell passt die Theorie von Rudolf Allers, einem späten Adler-Schüler. Er sieht in der Neurose in erster Linie die Unechtheit, welche unvereinbar ist mit echter Hingabe. Zu seiner Stellung als Geschöpf könne der Neurotiker kein Ja sprechen, denn er sei grundsätzlich egozentrisch. Allerdings ist bei Allers fast jeder Mensch ein Stück weit neurotisch: »… jenseits der Neurose steht nur der Heilige.«

 

Johannes B. Torello beschreibt die Neurose als »Persönlichkeit in der Sackgasse«: Es komme zur inneren Spaltung, zu Komplikationen, Egozentrismus und Unbeständigkeit der Gefühle:

 

Friedrich K., ein junger Musiker, sucht den Coach auf, weil er Schwierigkeiten habe, seine musikalische Leistung abzurufen. Er sei Geiger und anscheinend recht begabt. Schon in seinem Alter dürfe er in einem prominenten Orchester mitspielen. Doch sein Problem sei, dass er aufgrund einer chronischen Niedergeschlagenheit wenig Kraft zum Üben aufbringen könne und noch dazu im Orchester wesentlich schlechter spiele als zu Hause. Er wisse nicht, warum.

 

K. hat ein bescheidenes Auftreten und höfliche Umgangsformen, weswegen er auch von einer alten Gräfin finanziell unterstützt wird. Erst nach längerer Zeit kann der Coach die Blockade freilegen: Der Klient gesteht sich selbst in einer Schlüsselstunde ein, dass er »größenwahnsinnige Phantasien« habe: dass er der beste Geiger auf der Welt sei, das größte Talent seit Niccolò Paganini, das die Welt je gesehen hat, dass seine Lehrer ihm in keiner Weise das Wasser reichen könnten, dass im Orchester alle auf ihn schauen würden, dass Üben keinen Sinn habe, da er einerseits das größte Talent sei und es andererseits nicht aushalte, nur der zweitbeste Geiger der Welt zu sein (hier ist er ausgeprägt ambivalent). Im Orchester sei er stets innerlich aufgebracht, wenn die erste Geigerin ihm – dem Jüngsten – Anweisungen gebe, denn deren mickrige Spielkunst habe er schon im Alter von acht Jahren überflügelt. Er kämpfe sehr gegen diese Gedanken, sie seien ihm ausgesprochen peinlich, und er habe sie noch niemandem erzählt.

 

In der Therapie kann der Patient langsam über seine Phantasien lachen. Der Coach erarbeitet mit ihm das Konzept der Ichhaftigkeit und der ichhaften Vereinsamung. K. kauft sich zwei Bücher von Fritz Künkel und verschlingt sie. »Das bin ich!«, berichtet er strahlend, als er nach einer Woche wiederkommt. Die Lösung für Friedrich K. ist schließlich, seine Musik als Dienst an den anderen zu sehen. »Dienen statt glänzen« wird sein Motto, mit dem er sich wieder ins Orchester einfügen kann. Nun kann er sich erstmals auf die Musik statt auf sich selbst konzentrieren. Später berichtet er dem Coach, dass er jetzt erkannt habe, dass nur demütige Musik echte Kunst sei.

 

Ichhaftigkeit ist durch Selbsterkenntnis, die auch über sich zu schmunzeln erlaubt, tiefgreifend veränderbar, weil Ichhaftigkeit vom tierischen Ernst lebt und Selbstironie eine gesunde Distanz zur eigenen Pathologie schafft. Deswegen spielt der Humor in der logotherapeutischen Arbeit eine große Rolle, darf aber immer nur im Sinne Carl Rogers klientenzentriert und überaus respektvoll angebracht werden! 

 

 

Foto von Artur Voznenko auf Unsplash

Kommentar schreiben

Kommentare: 0