Was ist eigentlich Perfektionismus, wie äußert er sich, was sind seine Ursachen und Folgen? Wie leidet der Betreffende selbst, aber auch sein Umfeld unter der angestrebten Fehlerlosigkeit?
Die Haupteigenschaft des Unschuldslamms ist es, fehler- und makellos zu sein: also perfekt. Was genau Perfektionismus ist, weiß allerdings keiner so genau, denn darüber gibt es bis heute keinen Konsens in der deutschsprachigen Forschung. In diesem Blogbeitrag soll der Begriff in dem Sinn Verwendung finden, dass ein Mensch ein hohes Ideal – die Perfektion – mit einer unfreien, ja ängstlichen Verbissenheit in dem Maß anstrebt, dass er dadurch schwachsichtig wird für seine eigenen Unvollkommenheiten. Seine Schwachsichtigkeit rührt daher, dass »nicht sein kann, was nicht sein darf«. Keiner soll ihm einen Fehler nachsagen können!
Damit ist schon gesagt, dass nicht das Bemühen um eine gutgemachte Arbeit oder das Hochhalten eines Ideals dem zugrunde gelegt ist, sondern die ängstliche Sorge, hinter dem Ideal zurückzubleiben. Perfektionisten halten die natürliche Spannung zwischen dem »Soll« (dem Ideal) und dem »Ist« (der fehlerhaften Realität) nicht aus. Manche von ihnen schrauben zudem auch die Latte unerträglich hoch. Im Wesentlichen ist aber jeder Hinweis auf einen (menschlichen) Fehler für den Perfektionisten unerträglich und fast existenziell bedrohlich. Er kann sich nicht mit der simplen Tatsache versöhnen, dass Fehlerhaftigkeit dem Menschen immer anlastet – und dass das eigentlich ganz in Ordnung ist.
Wir leben zunehmend in einer perfektionistischen Gesellschaft – mit Nulltoleranz gegen Fehler. Das macht einerseits das Leben wirklich fad, und andererseits ist dadurch Bluffen an der Tagesordnung. Zur Marscherleichterung wurden manche Laster zur Tugend uminterpretiert und damit vordergründig moralischer Druck abgelassen. Aber neue Regeln folgen, und der neue Moralkodex verlangt penibelste Befolgung. Einerseits wird das »Ist« innerlich geleugnet und verdrängt, andererseits das »Soll« nach dem »Ist« umgeschrieben.
Perfektionisten zeichnen sich durch Pflichtbewusstsein, Verlässlichkeit, Pedanterie und Rigidität aus – und können sehr ungemütlich werden, wenn ihre Fehlerlosigkeit auch nur andeutungsweise in Frage gestellt wird. Ein perfektionistischer Mitarbeiter etwa – und davon gibt es viele – muss immer klarstellen, dass sein Auftrag ganz genau dieser war, wenn die Chefin etwa eine Änderung in einem Briefentwurf moniert. Auch dann, wenn die Chefin nicht den Funken eines Vorwurfes macht.
Perfektionismus ist im Grunde ein neurotisches Phänomen, präziser formuliert ein zwangsneurotisches – und eine Form von unglücklicher, humorloser Unfreiheit. Der Neurotiker hält das idealisierte Ich für das Ideal – also sich selbst (verzerrt ins Fehlerlose) für das Maß aller Dinge. Hier befindet er sich schon an der Grenze zum Narzissmus, aber im Gegensatz zum Narzissten ist der perfektionistische Neurotiker voll Ängstlichkeit. Für ihn ist jede Schuld eine persönliche Bedrohung und nur der leiseste Verdacht muss heftig abgewehrt werden. Weil er nämlich nicht weiß, wie er sie wieder loswerden kann. Und man darf sich schon gar nicht dabei ertappen lassen: Was könnten die anderen denken?
Interessanterweise spricht auch der Publizist Martin Lohmann von einer »regelrechten Angst vor der ganz normalen Wirklichkeit«. Lohmann sagt: »Weil wir den vermeintlichen Makel der persönlichen Schuldfähigkeit leugnen und uns in die Höhen selbstprojizierter Makellosigkeit schrauben, können wir die Realität nicht mehr ertragen. Und die heißt: Ich mache Fehler und werde schuldig. … Dabei beginnt eigentlich jede Freiheit erst mit dem Ja zu sich selbst und zur eigenen Schuld …«
Sigmund Freud hat anschaulich herausgearbeitet, dass die narzisstische Kränkung dort Platz greift, wo das idealisierte Selbst sich zu sehr vom realen Ich entfernt. Anders formuliert: Je mehr sich jemand ein geschöntes Bild von sich selber zurechtlegt, umso eher ist er kränkbar, wenn er mit der Realität konfrontiert wird.
Schuld ist aber, und das ist eine Weiterentwicklung des Freud'schen Konzepts, auch eine Realität im menschlichen Leben. Durch das Annehmen seiner Schuld können die schmerzhaft verdrängten Anteile der eigenen Schuld wieder heilsam in das Bewusstsein integriert werden, wodurch auch die neurotischen Anteile einer Person reduziert werden, weil weniger Verdrängungsarbeit notwendig ist. Schuldverdrängung und Perfektionismus hängen auch noch anders zusammen: Wer keine Möglichkeit sieht, mit Schuld so umzugehen, dass er sie bewältigen und irgendwie wieder loswerden kann, muss sie zwangsläufig verdrängen und »perfekt« sein, weil unbewältigte Schuld auf Dauer nicht auszuhalten ist.
Irmgard J., eine resolute 60-jährige Dame, schleppt ihren 65-jährigen Gatten Gunthard zum Psychologischen Berater, weil dieser in karitativer Gesinnung eine höhere Summe hergeschenkt hatte. Hier gehe es natürlich weniger um die Summe als um das Prinzip! »Wie kann er unser Geld einfach irgendwelchen Leuten in den Rachen werfen? Ohne mich zu fragen! Noch dazu Ausländern!«
Frau J. ist schwer zu beruhigen, und es dauert eine halbe Stunde, bis der Coach mit einer Frage bis zum Täter vordringen kann. »Ich habe meine Frau nicht gefragt, weil sie unendlich geizig ist – sie hat seit 40 Jahren noch nie Almosen gespendet.« Aber sie zahle ihre Steuern pflichtbewusst, das seien auch Almosen, lautet ihre spitze Replik. Sie setzt nach: »Ich bin sparsam, im Gegensatz zu dir. Wo wären wir ohne meine Sparsamkeit?«
Der Coach versucht seine Rolle nicht aus den Augen zu verlieren und fragt nach seiner Aufgabe in diesem Konflikt. Der Auftrag von Irmgard J. lautet, der Fachmann möge Gunthard J. untersuchen, ob er denn nicht wahnsinnig sei. Er ist es nicht. Dann wolle sie eine Paartherapie, um ihn zu verpflichten, ihr gemeinsames Geld in Zukunft nicht mehr zu verschleudern. Man findet einen Modus. Der Mann sieht seinen Fehler ein und bittet um Verzeihung. Sie glaubt ihm die Ernsthaftigkeit der Entschuldigung aber nicht.
Später nimmt Frau J. noch Einzelstunden, um das Trauma zu verarbeiten und um ihrem Mann verzeihen zu können. Ihr Selbstbild als sparsame, pflichtbewusste und vorbildliche Frau ist kurz ins Wanken geraten durch den kleinen Kommentar des Gatten, sie sei knausrig und engstirnig, und ohne Almosen sei ihre zur Schau gestellte Religiosität nicht viel wert. Letztlich geht es ihr aber um das Verzeihen einer Ungeheuerlichkeit, zu der sie niemals, und zwar unter keinen Umständen, fähig wäre. Wie solle sie ihm jemals verzeihen?
Mehr und mehr kommt sie in der Therapie zur Erkenntnis, dass sie einfach einen sehr fehlerhaften Mann geheiratet habe und selber insgesamt viel weniger Fehler habe. Das erschwere jetzt natürlich das Verzeihen. Sie könne nur für ihn beten. Da sich die therapeutische Beziehung in der Zwischenzeit als stabil erwiesen hat, erlaubt sich der Coach eine konfrontative Intervention. Er freue sich, sagt er mit freundlichem Lächeln, dass er die Ehre habe, vor der unbefleckten Empfängnis zu sitzen. Sie schaut den Coach zuerst fassungslos an – und beginnt dann herzhaft zu lachen. Der Groll löst sich in der Folge auf, weil sie aus ihrer Rolle der vermeintlichen Fehlerlosigkeit erlöst ist.
Die Dame erfüllt alle Kriterien für einen zwanghaften Perfektionismus. Humor schafft hier Selbstdistanz. Mit der dadurch gewonnenen Selbsterkenntnis ist dann das Verzeihen leichter möglich.
Da der Perfektionist meint, keine wirklich gravierenden Fehler zu haben, muss er sich folgerichtig auch nicht bessern. Warum auch? Jedes Bemühen wäre ja das Zugeständnis der eigenen Fehlerhaftigkeit. Ein Klient, der wegen Eheproblemen in Therapie war und in der Selbsterkenntnis große Fortschritte machte, sagte eines Tages: »Meine Frau darf aber nichts davon merken, dass ich an mir arbeite. Das wäre mir sehr peinlich.«
Mit einem Perfektionisten verheiratet zu sein ist oft mühsam: Die haben nämlich immer recht. Und wenn sie zufällig einmal nicht recht hatten, dann hat das einen ganz genauen Grund, der dann recht umständlich erklärt wird. Ein kurzes »Du hattest recht, ich habe mich geirrt« ist ihnen unmöglich zu entlocken. Der Perfektionist sucht meist die Bestätigung, dass er ohnehin alles richtig macht. Für den Therapeuten ist das in der Paartherapie oft eine große Herausforderung. Anfällig zu sein für Fehler, wie wir Menschen nun einmal sind, ist für den Perfektionisten bedrohlich. Damit ist für ihn aber jede Normgebung schon eine Infragestellung seiner selbst und wird letztlich als existenzielle Bedrohung erlebt. Aus diesem Grund reagiert der Neurotiker viel aggressiver auf externe Normgebung, als es die Umstände nahelegen.
Es wird niemand bezweifeln, dass es eine der Aufgaben der Religion ist, die moralische Latte hoch zu legen und ein »Soll« vorzugeben, an dem man sich ein Leben lang zu messen hat. Nebenbei bemerkt ist das nicht die Hauptaufgabe der Religion – Moral ist ein Nebenschauplatz. In allen Religionen gibt es wegen dieser anspruchsvollen Zielvorgaben Gläubige, die sich nicht an die Regeln ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft halten wollen, denen also die Trauben zu hoch hängen. Das ist nicht überraschend, sehr menschlich, völlig normal und deshalb weit verbreitet. Die meisten integrieren die Spannung zwischen »Soll« und »Ist« auch gut in ihr Selbstbild und können die Diskrepanz vor sich selbst und den anderen freimütig als Defizit zugeben. Perfektionisten hingegen ertragen diese Spannung nicht und müssen in ihrer ängstlichen Zwanghaftigkeit stattdessen die Regeln geändert haben. Denn sie wollen sich zwar nicht ändern, können aber durch ihre unflexible psychische Struktur auch nicht als unvollkommen dastehen. Mit demonstrativer Entrüstung und vorgeschobenem »Reformwillen« (Angst macht aggressiv) streben sie danach, ihrer Glaubensgemeinschaft ihr eigenes Lebensmodell aufzuzwingen – das natürlich mit einer echten Reform nichts zu tun hat. Das ist im Grunde Instrumentalisierung der Religion für egozentrische Zwecke.
In der jüdischen Thora wird das Phänomen des vorgeschobenen vorgeschobenen Reformwillens in der Erzählung vom Goldenen Kalb anschaulich geschildert. Durchsichtiger, billiger Selbstbetrug: Nicht das persönliche Leben wird nach dem religiösen Gebot ausgerichtet, sondern das Gebot nach dem persönlichen Leben umgeschrieben. Die Abschaffung des Schuldbegriffs, um die neurotische Selbstgerechtigkeit zu befriedigen, ist jedoch für den ängstlichen Perfektionisten mit einer anstrengenden Arbeit verbunden: mit der Verdrängung der eigenen Fehlerhaftigkeit, die sich in Aggressionsdurchbrüchen gegen jegliche moralische Normen Erleichterung verschafft.
Foto von Ksenia Makagonova auf Unsplash
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