Kurz könnte man sagen: Schuldgefühle entstehen, wenn die eigenen Handlungen nicht mit den eigenen Prinzipien kongruent sind. Und gerne "erfindet" unsere Psyche in diesem Moment sogenannte "erklärende Geschichten": Ich rationalisiere den ganzen Komplex verwirrender Gefühle und heraus kommt eine Story, die erkennbar irrational und verallgemeinernd ist, aber in meine persönlichen oder allgemeine gesellschaftliche Narrative passt.
Die 39-jährige, ledige Lehrerin Herta F. kommt in unsere Beratung, weil sie sich ihre Vergangenheit »anschauen« möchte. Dabei falle ihr vor allem auf, dass sie beim Thema Sexualität immer Schuldgefühle habe, da wisse sie eigentlich nicht, warum. Sie verabscheue Männer und insbesondere ihren Schwager, denn der wolle von ihrer Schwester »nur das eine«. Wenn sie sich nur vorstelle, was der von ihrer Schwester alles verlange! Das könne sie zwar nicht belegen, aber als Frau merke sie das schon, das könne ihr der Therapeut ruhig glauben.
Welche Erfahrungen sie selbst mit Sexualität gemacht habe? Nur schlechte. Sie habe einen gleichaltrigen Freund gehabt (Andreas), als sie 20 Jahre alt gewesen sei, und der habe sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Zwei Jahre lang seien sie zusammen gewesen, und eineinhalb Jahre habe das Martyrium gewährt. Danach habe sie nie mehr einen Mann angeschaut.
Warum sie sich damals nicht verweigert habe? Das sei nicht gegangen. Ob es nicht ab und zu auch schön gewesen sei? Die Patientin wird unruhig. Natürlich habe so etwas auch angenehme Seiten … Die Patientin schweigt lange … Aber sie habe immer einen anderen Mann geliebt! Jetzt sprudelt es aus ihr heraus. Sie sei seit zwei Jahren in Martin verliebt gewesen, habe sich aber nicht getraut, sich ihm zu nähern. Dann sei Andreas gekommen, der sei auch ganz nett gewesen, aber halt nur ein schwacher Abklatsch, ein erreichbarer Ersatz. Aber den unerreichbaren Martin habe sie nie vergessen können, wo sie ihn noch dazu regelmäßig auf der Uni gesehen habe. Und so habe sie während des Geschlechtsverkehrs mit Andreas immer den geliebten Martin phantasiert – mit immensen Schuldgefühlen gegenüber Andreas danach.
Die eigenen Schuldgefühle verlagert das EGO dann gerne nach außen und erfindet einen "Schuldigen". Es darf ja nicht sein, in die Selbst-Verantwortung zu gehen! Dann müsste gehandelt werden - und genau davor haben wir eine so entsetzliche Angst.
Deswegen sind Schuldgefühle so eine ergiebige Quelle in der individualpsychologischen Arbeit. Frag Dich also bitte selbst:
- Wo gibt es "Schuldige" in Deinem Leben?
- Wo ist verdrängte Mitschuld oder Verantwortung?
- Wo sind verdrängte Motive?
- Was hast DU davon gehabt, in einer für Dich summa summarum schädlichen Beziehung zu verbleiben?
- Hast Du Schuld - eigene wie fremde - bereits aufgearbeitet? Ist sie verziehen, so dass Du bei dem Gedanken daran emotional vollkommen oder weitgehend ruhig bleiben kannst?
Photo by M. on Unsplash
Kommentar schreiben