Schuldig / unschuldig?

 

Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr, weder in Therapien noch in Talkshows. Kann schon sein, dass Wien in den Tagen Sigmund Freuds unheimlich verklemmt war und alles Sexuelle fürchterlich verdrängt hat. In den Städten unserer Tage ist das definitiv nicht der Fall. Aber über eigene Fehler sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld.

 

Die Abwehraggression bei dem Thema ist deutlich spürbar, besonders auffällig natürlich bei Paartherapien, bei denen jeweils »Unschuld« auf Beschuldigung prallt. Die peinlichen Verrenkungen, um offensichtliche Fehler zu verleugnen, sind bemerkenswert. Wir verdrängen unsere Schuld, weil sie letztlich Schmerz bedeutet und wir Angst vor Schmerz haben.

 

Viele Menschen tun sich heute schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und haben sich ein entlastendes Erklärungsmuster von Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer. Dieser Mechanismus ist aber der seelischen Gesundheit nicht förderlich, denn das Opferdasein ist eine psychodynamische Sackgasse, die in der Fachliteratur immer häufiger als »Opferfalle« beschrieben wird. Ändern können wir nur ganz selten die anderen, aber immer uns selbst.

 

Der systemische Psychotherapeut Paul Watzlawick, der wie Arnold Schwarzenegger aus Österreich stammte und in Kalifornien zu Weltruhm kam, schreibt in seiner heiter-ironischen »Anleitung zum Unglücklichsein«:

 

»Schön – man steht schuldbeladen da, man hätte es damals besser wissen sollen, aber jetzt ist es zu spät. Damals sündigte man, jetzt ist man das Opfer des eigenen Fehltritts: Ideal ist diese Form der Unglücklichkeitskonstruktion freilich nicht, nur passabel. Suchen wir daher nach einer Verfeinerung. Was, wenn wir am ursprünglichen Ereignis unbeteiligt sind? Wenn uns niemand der Mithilfe beschuldigen kann? Kein Zweifel, dann sind wir reine Opfer, und es soll nur jemand versuchen, an unserem Opferstatus zu rütteln oder gar zu erwarten, dass wir etwas dagegen unternehmen. Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosomen und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, Ärzte, Chefs oder besonders Freunde antaten, wiegt so schwer, dass die bloße Insinuation, vielleicht etwas dagegen tun zu können, schon eine Beleidigung ist.

 

Außerdem ist sie unwissenschaftlich. Jedes Lehrbuch der Psychologie öffnet uns die Augen für die Determinierung der Persönlichkeit durch Ereignisse in der Vergangenheit, vor allem in der frühen Kindheit. Und jedes Kind weiß, dass, was einmal geschehen, nie mehr ungeschehen gemacht werden kann. Daher, nebenbei bemerkt, der tierische Ernst (und die Länge) fachgerechter psychologischer Behandlungen.«

 

Was Watzlawick da 1983 launig auf den Punkt brachte, ist heute, dreißig Jahre später, zur Pandemie geworden: Fremdbeschuldigung, Selbstmitleid, proklamierte Opferidentität – und eine steigende Zahl humorloser Therapeuten und Coaches. Auch der Hinweis auf die angebliche Wissenschaftlichkeit der eigenen Meinung und die damit schon vorausgesetzte Unwissenschaftlichkeit jeglichen Rüttelns am Opferstatus ist zum Volkssport geworden. Heute wie damals haben die meisten keine besondere Ahnung, was »die Wissenschaft« wirklich sagt, aber die bloße Behauptung unterstreicht so schön die eigene Position. Die Täterliste Watzlawicks ist lang – und bestimmt fallen uns da unschwer noch mehr Bösewichte ein. Die alle eines gemeinsam haben: Es sind die anderen, die, auf die man mit dem Finger zeigen kann. Die die ganze Schuld auf sich nehmen müssen, damit wir bleiben können, wie wir sind: makellos und fehlerfrei.

 

Die Dimension des subjektiven Leids wird in den klassischen alten Lehrbüchern so anschaulich »neurotische Entwicklung« genannt. Hier verheddert sich das Ich in sich selbst, der Mensch kreist mehr und mehr um sich. Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Opfergejammer und Selbstmitleid können die Folge sein. Es entwickelt sich mitunter eine zunehmende Angst um sich selbst. Selbsterkenntnis wird angstvoll vermieden. Schuldige für das eigene Leiden werden außerhalb seiner selbst gesucht. So wird die Schuld im Sinn einer Fremdbeschuldigung wegprojiziert, die Angst scheinbar gebannt. Die neurotische Lebenseinstellung vergiftet das menschliche Zusammenleben und die persönliche Lebensqualität. Hier greift das Sprichwort »Wie man sich bettet, so liegt man«. Aufgrund der Opfermentalität und der ausgeprägten Fremdbeschuldigung können die Betroffenen aus Fehlern nicht klug werden.

 

Schuld und Unschuld aus moralischer Sicht sind keine Themen im tiefenpsychologischen Coaching oder - hoffentlich! - in der Psychotherapie. Sie gehören natürlich in einen Raum der Seelsorge, in den Raum der Spiritualität. Die Arbeit mit unseren Klienten ist "moralfrei", sucht aber nach den psychischen Quellen für Schuld und Unschuld. Beide sind übersteigert natürlich neurotisch und bedürfen der Aufarbeitung, wobei hier das Wort "Arbeit" betont sein mag. Als hervorragende Methode hat sich hier sowohl in der Fremd- wie der Eigenvergebung die Tipping- Methode der Radikalen Vergebung herausstellt, die nach einer kurzen Einführung einer der bedeutendsten Selbstcoaching Methoden ist, die ich persönlich kenne. Mehr darüber findest Du HIER

 

 

Photo by Louis Galvez on Unsplash

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